Judith:

Ich bin von Geburt an gehörlos. Festgestellt wurde meine Gehörlosigkeit, als ich bereits 9 Monate alt war. Weil ich so flinke Augen hatte, meinte man hin und wieder, ich könne hören. Bis meine Mutter sich Klarheit verschaffen wollte und hinter mir einen Schlüsselbund kräftig hin und her schüttelte – ich lachte mein Gegenüber weiterhin an und reagierte gar nicht auf das Geräusch. Erst dann wurde auch die Diagnose durch den Kinderarzt festgestellt: „An Taubheit grenzende Schwerhörigkeit“.

Da ich aber ohne Hörgeräte bzw. ein CI (Cochlea Implantat) so gut wie gar nicht höre, nenne ich mich deshalb „gehörlos“ oder „taub“.

Damit ich trotz meiner Taubheit einen Zugang zur Sprache bekam, setzte meine Mutter alles daran, mich darin so gut zu unterstützen. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, brachte meine Mutter mir das Lesen und Schreiben bei. Gleichzeitig achtete sie darauf, dass ich ihr immer auf die Lippen schaute, wenn sie mir Wörter vorsprach.

Judith als Kleinkind beim Lippenlesen mit Mutter

Meine Mutter ließ mich täglich (!) Diktate schreiben. Sie las mir Texte vor, ich schaute ihr genau auf die Lippen und schrieb das Gesagte auf. Auf diese Weise konnte sie am leichtesten feststellen, ob ich wirklich verstand, was sie sagte. So entwickelte ich sehr früh ein Gefühl für die deutsche Sprache mit Rechtsschreibung und Grammatik.

Mein Denkmuster wurde auch in diesem Alter geprägt. Immer, wenn ich ein Wort las, stellte ich mir sofort das Mundbild vor, wie das Wort im Mundbild aussah. Das war und ist weiterhin mein „Augen-Hörgedächtnis“.

Ich bekam von meiner Mutter Bücher zum Lesen, weil die Bücher für mich als Gehörlose die beste Möglichkeit boten, an die Schriftsprache, an die Informationen heranzukommen. Ich wurde zu einer Leserattin.

Je mehr Wörter ich kannte, umso besser konnte ich lippenlesen.

Denn beim Lippenlesen ist es so: Man muss IMMER mitdenken, während man mit den Augen  beim Lippenlesen „zuhört“ . Ohne ein großes Wortschatz, ohne das Wissen, ohne die Bildung, kommt man beim Lippenlesen nicht weiter.

Da das Lippenlesen immer mit hoher Konzentration verbunden ist, benötigen wir Hörgeschädigte beim Lippenlesen immer Pausen zwischendurch für unsere Augen und unseren Gehirn.

Inzwischen bin ich 45 Jahre alt und kann stolz sagen, dass ich eine sehr erfahrene Lippenleserin bin.

Umso mehr freue ich mich – gemeinsam mit meinem Mann André Harter – zusammen mit 40 weiteren ebenfalls sehr erfahrenen LippenleserInnen mit diesem besonderen Können den Hörenden die Dienstleistung Lippenlesen anzubieten.

André:

Ich war 11 oder 12 Jahre alt, als ich Judith kennenlernte. Sie war 10 oder 11 Jahre alt und sagte mir, sie ist taub und muss mir von den Lippen absehen. Dass sie lippenlesen kann, hat mich schon damals so sehr fasziniert.

Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich in einem Film zum ersten Mal durch Lippenlesen beeindruckt war. Das interessierte mich so sehr, dass ich diese Möglichkeit mit dem Lippenlesen nicht vergaß. Als ich Judith begegnete und sie mir sagte, dass sie lippenliest, war ich so fasziniert davon und versuchte lippenzulesen. Aber in dem Tempo, wie sie lippenlas, gleichzeitig die Wörter und Sätze kompensierte und dann auch noch schnell richtige Antworten lieferte, konnte ich als Hörender natürlich nicht mithalten.

Wir passten unsere Kommunikation an. Ich sprach bewusst deutlicher, damit sie die Vokale in meinem Mundbild besser erkennen und mein Gesagtes auf 100% kompensieren konnte. Sie wiederum korrigierte sich in ihrer Lautsprache, wenn ich sie nicht verstand. Unsere Kommunikation verlief spielerisch und wir verstanden uns sehr gut.

Dass sie aber viel mehr leistet beim Lippenlesen, das habe ich erst als Erwachsener begriffen, als wir uns nach 27 Jahren wieder gesehen, zusammengefunden und geheiratet haben.

Inzwischen kann ich durch meine Frau Judith so einiges lippenlesen und merke öfter mal nicht, wenn ein geschlossenes Fenster zwischen uns steht und wir uns trotzdem weiter unterhalten können. Das ist für mich immer wieder erstaunlich. Bei fremden Menschen schaue ich auch öfter genauer auf die Lippen. Es strengt jedoch an, weil mir mein Gehör im Weg steht.

Nun leiten wir gemeinsam erfolgreich die Lippenleser-Agentur und setzen diese spezielle Gabe des Lippenlesens auf verschiedenen Gebieten ein.

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